Attersee 6. Oktober 2012

 

Viele der Seen die mir noch fehlten, stellten eigentlich keine läuferische Herausforderung dar. Da ging es eher um die Frage, wann ich Zeit hätte, da einmal hin zu kommen, um herumzulaufen. Manche Seen bereiteten mir aber noch Kopfzerbrechen. Entweder waren die Ufer schwer zugänglich, oder sie waren einfach nur groß. Der Attersee war einfach nur groß. Er ist der größte österreichische Binnensee, also der größte See, der zur Gänze in Österreich liegt. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, um um ihn herumzukommen, würde ich mehr als eine Marathondistanz laufen müssen, also zum Ultraläufer werden.

 

Nun, jetzt lauf ich ja nicht so ohne weiteres einmal schnell 50 km. Die Umrundung des Attersees sollte daher sinnvollerweise in die Vorbereitungsphase eines Marathons eingebaut werden, wenn ich mich ohnedies an lange Distanzen gewöhnen musste. So überlegte ich im Frühjahr zum „Autofreien Rad-Erlebnistag Attersee“ anzureisen (vermutlich mit Auto, womit der Sinn dieser Veranstaltung natürlich etwas hinterfragenswert geworden wäre). Nur war ich in dieser Zeit schon wieder im Vorwettkampfgejammere zum Plitvice Marathon, und Herz und Lunge waren knapp daran, ihren Dienst zu versagen. Außerdem wäre dies einer der heißesten Tage gewesen, was ein Laufen nicht leichter gemacht hätte. Also wurde das Ganze abgeblasen.

 

Den nächsten Versuch startete ich nun bei der alljährlichen Rückholaktion meiner Mutter aus ihrem Urlaubsquartier in St. Wolfgang. Diesmal musste ich zumindest eine Übernachtung einplanen, weil Auto fahren wollte ich nach meinem Rekordlauf sicher nicht mehr. Auch zog ich es vor, nicht allein unterwegs sein, eine gewisse Versorgung mit fester und flüssiger Nahrung und ein Backup-System für den Fall meines Scheiterns wollte ich schon einplanen. Aber dennoch konnte ich meine Familie nicht einen ganzen Tag für stumpfsinnige Hilfsdienste einteilen.

 

„Damenprogramm“ wäre daher entweder eine Schifffahrt gewesen. Da hätte ich Startort und –zeit so festlegen müssen, dass die Begleitpersonen nach ca. 30 km einen Anlegepunkt hätten, mich versorgen und dann mit dem nächsten Schiff wieder nach Hause fahren konnten. Oder eine Radfahrt. Diesfalls wäre ich natürlich in alle Richtungen flexibler gewesen. Ein teilweises Mitlaufen scheiterte wieder daran, dass der oder die Begleitläufer selber auch kaum etwas transportieren konnten. Nach Unterbreitung einiger Reisevorschläge kristallisierte sich dann die Radbegleitung als beste Variante heraus.

 

Als Vorbereitung machte ich eine Art Notprogramm, um nach einem fast lauffreien Sommer (Ausnahme war ein Lauf im Central Park New York) wieder auf Touren zu kommen. Nach dem ein 30-km-Lauf eine Woche zuvor gut verlaufen war, war ich zuversichtlich.

 

Wir reisten am Samstag sehr zeitig in der Früh an. Auf der Autobahn fuhren wir zeitweise noch durch Nebelfetzen. Bald aber stellte sich wunderschönes Herbstwetter ein. So sollte es sein, wenn schon ein Ultralauf, dann bitte nicht auch noch Erschwernis durch das Wetter! In Seewalchen trafen wir das erste Mal auf den See und sahen eine Menge Schwäne, was Paula zu der Bemerkung, wir wären jetzt am Schwanensee, verleitete.

 

Nun kam der erste Schock. Ich wusste zwar, dass ich Großteils an der Straße laufen müsste, doch hoffte ich zumindest auf begleitende Geh- oder Radwege. Hier war aber gar nichts. Die Ortsdurchfahrten waren teilweise so eng, dass gerade zwei Autos aneinander vorbei kamen. Noch dazu herrschte relativ viel Verkehr. Wenn ich da am Ende meines Laufes halb komatös auf der Straße herum irren würde, könnte das ganz schön gefährlich werden. Conny schlug mir schon vor, auf den nächsten autofreien Tag zu warten, ob im Ernst oder nur im Spaß weiß ich nicht. Ich beschloss, wenn ich schon da war, es wenigstens zu versuchen.

 

Wir hatten unser Hotel in Nußdorf am Attersee gebucht. Conny kümmerte sich um die Räder, die der Gastgeber netterweise anbot. Ich machte mich gleich auf den Weg. Ich lief zumeist an der linken Straßenseite um auf den Verkehr besser reagieren zu können. Manchmal hatte ich hier einen Gehsteig, manchmal konnte ich auf die rechte Seite wechseln, um dort einen Gehsteig vorzufinden. Genau kann ich es jetzt nicht mehr sagen, wo es Gehsteige gab und wo nicht, dazu war der Lauf einfach zu lang, um mir alles zu merken. Gelegentlich sah ich Radrouten angeschrieben, die auf verkehrsärmeren Wegen vom See wegführten. Die hatten mir aber zu viele Höhenmeter und so blieb ich auf der Straße, um mich nicht zu verzetteln. Ich lief einfach, mit wenigen Ausnahmen, immer auf den beiden den See umgebenden Bundesstraßen 151 und 152.

 

Bald hatte ich einen recht guten Rhythmus gefunden und mich auf den Verkehr eingestellt. Die meisten Autofahrer waren sehr diszipliniert und hielten sich an die Tempolimits. Läufer waren natürlich nicht viele unterwegs, aber viele Radfahrer, die ein vorsichtiges Autofahren gewissermaßen erzwangen. Vor unübersichtlichen Kurven schwenkte ich etwas aus, um frühzeitig sichtbar zu sein. Hörte ich ein Auto streckte ich schon mal die Hand auf die Seite, um den Fahrer zu warnen.

 

Schade war, dass ich, obwohl ich zumeist ganz knapp an See lief, fast nichts davon mitbekam. Meine Blicke waren immer auf die Straße gerichtet, lief ich ganz links, musste ich auch noch achten nicht am Asphaltrand umzuknicken und außerdem waren oft noch Sträucher oder Badehütten zwischen Straße und See. Erwischte ich einmal einem Blick, genoss ich es umso mehr, war doch das Wasser, ganz untypisch für den Attersee, relativ ruhig und somit glasklar und schillerte, ob des schönen Wetters, in den tollsten Blau- und Grüntönen.

 

Schon nach ein paar Kilometer überholten mich Conny und die Kinder mit einem gesungenen „Klingelingeling“, offensichtlich hatten die Leihräder keine wirkliche Glocke. Da ich merkte, dass die Sonne schon stark auf meinen Kopf brannte, ließ ich mir noch ein Kapperl geben. Hier hatte sich die Radbegleitung bereits bewährt.

 

In Unterach konnte ich das erste Mal von der Straße runter und durch den Ort laufen. Die Häuser bzw. Villen waren alle schön gepflegt. Es herrschte eine sehr entspannte Atmosphäre, die Bewohner pilgerten quer über die Straße zu ihren Seezugängen, fast wie in einer Feriensiedlung, nur da hier wohnten wirklich Leute. Den Weg durch den Ort fand ich problemlos, ich hatte mir die paar schwierigeren Stellen genau eingeprägt und keine Karte mitgenommen. Nach einer Brücke über die Seeache kam ich über ein paar Stufen wieder auf die Bundesstraße.

 

Ich lief nun im Schatten von Felswänden und es wurde fast ein bisschen kühl. Ich nahm mein Kapperl für ein paar Minuten ab, um meine Haarwurzeln wieder mit Frischluft zu versorgen. In Burgau konnte ich wieder von der Bundesstraße runter. Die Umgehungsstraße dürfte relativ neu angelegt worden sein. Die alte Straße war als Sackgasse beschildert, um den Durzugsverkehr abzuhalten. Ich vertraute einfach, dass es für Läufer sicher ein Durchkommen geben würde. Genau genommen war dann sogar eine Radroute durch den Ort angeschrieben, trotz Sackgasse. Ich kam bei einem Fischer vorbei, der gerade sein Equipment aus dem Auto auslud und seine Frau anschnauzte, weil sie sich beim Tragen der Ausrüstung seiner Meinung nach so ungeschickt anstellte. Ältere Ehepaare können so grausam sein. Jemanden beim Fischen zuzusehen ist sicher kaum interessanter, als jemanden beim Seenumrunden zu begleiten. Da sollte er doch froh sein, dass sie bereit war mit zu machen.

 

Als ich wieder auf der Hauptstraße war, hoffte ich insgeheim, dass Conny und die Kinder einmal eine Pause eingelegt hatten und auf mich warteten. Umso mehr war ich überrascht, als sie mich wieder mit einem Klingelingeling überholten. In Unterach hatten sie die Umfahrung genommen und dabei sprang Conny die Kette aus dem Rad. So hatte ich sie wieder ohne es zu merken überholt. Ich verinnerlichte mir ab dann, dass ich nicht nur auf mich selbst achtgeben musste, sondern mir auch um meine Familie Sorgen zu machen hatte. Nachdem Conny von mir ein Foto machte, ich hatte es ja diesmal gut, ich brauchte weder die Landkarte noch einen Fotoapparat mitzunehmen, ging es schon wieder weiter, für eine Pause war es noch viel zu früh.

 

Attersee

Bald kam ich nach Steinbach. Ich erinnerte mich an die jetzt schon öfters erwähnte Fahrradtour quer durch Österreich in meiner Jugend, als wir vom Traunsee kommend hier relativ forsch den Berg runter kamen. Ich war damals überrascht, mit welcher Unvermitteltheit der See plötzlich da war. Mit etwas falsch kalkulierter Bremse wäre man gleich ungespitzt im See gelandet. Schön langsam näherte ich mich dem Vis-à-vis meines Startpunktes am anderen Ufer. Nächstes Ziel war Weyregg, wo wir uns einen fixen Versorgungspunkt ausgemacht hatten. Um es auch sicher dorthin zu schaffen, nahm ich eins meiner mitgenommenen Gels.

 

Nun war fast durchgängig ein Gehweg am Straßenrand. An der Strecke gab es immer wieder Parkplätz, die vor allem durch Taucher belegt waren. Auch viele internationale Gruppen konnte ich anhand der Nummerntafeln erkennen. In einer Bucht stand eine Menge Taucher am Straßenrand und schauten angestrengt in eine Richtung. Ich merkte, dass irgendwas nicht normal war. Beim nächsten Parkplatz fuhr plötzlich die Feuerwehr mit Blaulicht zu und fragte, ob die dortigen Taucher einen Notruf veranlasst hätten. Da wusste ich, dass etwas passiert sein müsste. Als dann noch die Wasserrettung am See erkennbar war und dann im Abstand von ca. jeweils einer halben Stunde weitere Rettungskräfte eintrafen, war mir klar, dass dieser Tauchunfall wohl nur letal geendet haben konnte, was mir am Abend im Teletext bestätigt wurde. Das war ein sehr eigenartiges Gefühl. Ich ging hier bei wunderschönem Wetter meinem Hobby nach und ein paar Meter daneben starb ein Mensch. Ich wusste, dass ich hier mit Sicherheit nicht helfen konnte. Als einziges fiel mir ein, ein Stoßgebet für die arme Seele gegen Himmel zu schicken und das tat ich dann auch.

 

Aufgrund erster Ermüdungen war ich froh, endlich Weyregg zu erreichen. Am vereinbarten Treffpunkt fand ich Conny nicht und versucht sie daher am Handy zu erreichen. Sie wartete an der vorigen Schiffsanlegestelle in Alexenau. Das gab mir die Gelegenheit noch ein paar Kilometer weiter zu kommen. Es ging jetzt, teilweise auf Fußpfaden durch Weyregg. Wieder auf der Straße suchte ich nach einem netten Rastplatz und fand eine öffentliche Badestelle. Weiter wollte ich jetzt nicht mehr, die letzten Meter liefen schon sehr unrund. Ich setzte mich auf den Randstein mit Blick auf die Straße statt auf den See, um sie nur ja nicht zu verpassen und versuchte mich bestmöglich zu erholen.

 

Attersee

Nach ein paar Minuten kamen sie schon angeradelt. Wir zogen uns nun auf die kleine Uferwiese zurück und versuchten Schatten unter einem Baum zu bekommen. Das Wasser des Sees war gar nicht so kalt wie erwartet, mit etwas Mut hätte man noch schwimmen können. Ich bekam eine Banane und jede Menge Isodrink. Als besonderer Luxus, konnte ich sogar ein frisches Shirt anziehen zu. Mit dem Navi am Handy schätzte ich, dass es jetzt noch ca. 16 km sein würden. Mit der Erfahrung der letzten Kilometer, befürchtete ich, dass ich sicher noch drei, vier Pausen brauchen würde. Conny sagte mir, ich solle mich nicht so anstellen, das liefe ich doch sicher noch ganz locker. Nach ca. 40 min machte ich mich wieder auf den Weg.

 

Zu meiner Überraschung lief ich jetzt doch wieder deutlich leichter. Ich war zwar eindeutig langsamer unterwegs als zu Beginn, aber es ging doch vorwärts. Bald kam ich nach Kammer und damit an das nördliche Ufer des Sees. Der Ort hat dem Attersee auch seinen Zweitnamen Kammersee eingebracht. Seinen Erstnamen hat der See wiederum an den Maler Christian Ludwig Attersee weitergegeben. Christian Ludwig, so sein bürgerlicher Name, war in jungen Jahren ein erfolgreicher Segler. Bei Siegerehrungen wurde nach dem Namen immer auch das Segelrevier genannt, in seinem Fall also: Christian Ludwig – Attersee. Dieser Name ist ihm geblieben. Lieber hätte er ja, wie er einmal in einem Interview erzählte, den Namen Christian Ludwig Millionär angenommen. Aber Segler seien die größten Trottel, die denken an nichts anderes als segeln und stecken ihr ganzes Geld in das Boot. Und dann bleibt nichts für die Kunst. Aber ich schweife ab.

 

Jetzt musste ich nur noch am Westufer zurück nach Nußdorf. Gleich nach dem Bahnübergang der Nebenbahn nach Vöklabruck bog ich in den Park am See ein. Als ich bemerkte, dass ich da nur auf die Halbinsel des Schlosses Kammer kam, lief ich möglichst direkt über Wiesen wieder zurück zur Straße. Ich kam zur Brücke über die Ager, wo wir am Vormittag schon die Schwäne beobachtet hatten. Nach der Brücke fand ich gleich die Promenade und damit den eigentlich gesuchten seenahen Weg. Nach einem knappen Kilometer ging es wieder steil hinauf zur Bundesstraße und ich beschloss die paar Meter zu gehen.

 

Nun war ich auf diesem relativ hässlichen Stück, das wir schon am Morgen mit dem Auto gefahren waren. Ich hoffte, relativ bald auf Conny zu treffen, um eine Ausrede für eine Pause zu haben. Allerdings, je später sie käme, desto mehr würde ich vom Rest auch schon wieder hinter mich gebracht haben. Kurze Zeit danach kam schon ihr Anruf. Conny und die Kinder hatten noch Stärkungen eingekauft und waren daher noch hinter mir. Ich lief einfach weiter, bis sie mich einholen würden. In Litzlberg hielt ich nach der gleichnamigen Insel Ausschau. Im Schloss Litzlberg, das auf der Insel liegt, wohnt ja die Familie Leitl, kein Wunder also, dass der Wirtschaftsbundobmann Christoph Leitl ständig so fröhlich grinsen kann. Von der Straße aus war aber nichts zu sehen, ich fand lediglich das Straßenschild „Inselweg“.

 

Kurze Zeit später holten mich meine Radbegleiter ein. Wir fanden gleich eine kleine Wiese mit einem Bankerl, wo ich mich nochmals stärken konnte. Nach 10 min lief ich wieder weiter. Meine liebe Frau sagte, dass sie jetzt nicht mehr warten würde, dafür aber inzwischen das Zimmer im Hotel klar machen würde. So trottete ich weiter. Irgendwo vor Attersee am Attersee musste ich die Marathondistanz vollendet haben, ab nun betrat ich Neuland. Es schmerzte aber gar nicht besonders ich lief einfach ruhig weiter und es machte fast Spaß. Auch die Steigung hinauf nach Nußdorf konnte mir nichts anhaben. Als Conny die Koffer aus dem Auto holen wollte konnte sie mich schon mit einem „Ah, du bist schon da!“ wieder zurück begrüßen. Nach rund fünfeinhalb Stunden war ich um den See. Das war für die ca. 47,5 km zwar nicht so toll, die reine Nettozeit brachte aber einen Pace von 5:55, damit konnte ich leben. Offensichtlich kann man mit kleinen wohldosierten Pausen auch längere Strecken einigermaßen schmerzfrei überleben.

 

Attersee

Nach einer Regenerationspause ging ich mit Conny wieder hinunter zum See, um in der Nachmittagssonne Kaffee und Kuchen zu genießen und mit einem Aperitif auf die gelungene Umrundung anzustoßen. Die Kinder machten inzwischen ein kleines Nachmittagsschläfchen. Zufrieden stellte ich fest, dass die Strecke offensichtlich auch für Radfahrer anstrengend war. Hurra, nun war ich ein Ultraläufer!