10 Vorurteile über New York

New York City Marathon 2. November 2014

 

Die Geschichte beginnt beim Marathon Düsseldorf vor einem halben Jahr. Beim Zieleinlauf hing ein Plakat: „Nur noch 6.040 km bis New York City.“ Damit manifestierte sich mein bis dahin heimlicher Wunsch und wurde Gewissheit: „Meinen zehnten Marathon will ich in New York zu laufen.“ Dann bin ich 50 und kann mit diesem Highlight meine Marathonkarriere beschließen. Und da die Leute ohnehin immer nach Geschenkideen suchen, brauchte ich mich um die Organisation auch nicht zu kümmern und konnte alles meiner lieben Frau überlassen. Und so bekam ich am 31. August stielgerecht in einem „Big Apple“ verpackt einen Gutschein für eine Marathonreise nach New York überreicht.

 

Nun gingen sich noch zwei Monate für eine gezielte Vorbereitung aus. Aber dann erwischte mich ein Virus. Am ersten Tag mit Fieber dachte ich mir noch, wie schaffe ich es nur, möglichst schnell wieder in mein Training einzusteigen. Als ich dann nach ein paar Tagen zwar fieberfrei war, aber mich immer noch nicht fit fühlte, dachte ich mir nur noch, wie schaffe ich es am 2. November gesund am Start zu stehen.

 

So wurde die Vorbereitung ein Experiment: Kann man mit vier Wochen Training und vier Wochen Tapern einen Marathon laufen? In der lauffreien Zeit versuchte ich mir den Marathon, der ja im angelsächsischen Bereich mit 26,2 Meilen markiert ist, einfach als Longjog mit 26 langen Kilometern vorzustellen. Angesichts meines Trainingszustandes die wahrscheinlich längsten Kilometer der Welt. Immerhin schaffte ich neun Tage vor dem Marathon wieder einen Lauf über 23 km, der überraschend gut verlief und ich war einigermaßen beruhigt. Die Vorfreude auf das große Event stieg.

 

Conny und ich reisten am Donnerstag an. Bei der Sicherheitskontrolle am Wiener Flughafen wurden den Passagieren Trinkflaschen abgenommen und auf einem Tisch abgestellt. Ich dachte bei diesem Anblick an die Eigenverpflegung bei einem Rennen, offensichtlich war ich schon ziemlich auf den Marathon fokussiert. Für den Flug hatte ich mir ungefähr 50 Seiten Laufberichte aus dem Forum ausgedruckt, die ich in letzter Zeit leider nicht lesen konnte. Am JFK Airport angekommen fuhren wir mit der Subway nach Manhattan.

 

1. New York ist hektisch und laut

Als wir am Times Square aus dem U-Bahn Schacht kletterten wurden wir von dem Gewusel aus dahineilenden Menschen, hupenden Taxis und grellen Lichtern voll getroffen. Nach unserem letzten New York Aufenthalt vor zwei Jahren hatte ich dieses Gefühl vom Big Apple aber schon vermisst. Unser Hotelzimmer war zwar nur im 10. Stock, trotzdem hatten wir einen schönen Blick auf das pulsierende Leben und zumindest das Worldwide Plaza, einen der berühmten Wolkenkratzer, konnten wir vom Zimmer aus sehen.

 

Weniger vermisst hatte ich die Klimaanlagen. Ein Lüftungsgebläse am Gang, direkt vor unserer Zimmertür dröhnte furchtbar laut. Nach einem Versuch die Tür mit der Bettdecke abzudichten, war zwar die Turbine leiser, dafür hörte ich dann die Klimageräte am Vordach des Hotels. Mir ist nicht klar, warum man bei den Qualitätsfaktoren einer Unterkunft nicht auch das Sounddesign ein bisschen mitdenkt. Wurscht, irgendwann nahm ich das Zimmer als mein typisches New Yorker Zimmer an. Und mit Ohropax konnte ich auch gut schlafen.

 

High Line Park

Am Freitagmorgen wollten wir zuerst einmal durch den Central Park laufen. Wir fuhren mit der U-Bah in den Norden, tauchten in die prächtige Herbstfärbung ein, stellten am Jacqueline Kennedy Onassis Reservoir die Laufszene von Marathon Man nach und besichtigten die Aufbauarbeiten des Zielgeländes. Danach ging es zur Abholung der Startunterlagen. Als wir zum Kongresszentrum kamen, hatte sich vor dem Eingang bereits eine (jetzt auf Google maps nachgemessene) 500 m lange Schlange gebildet. Als wir nach 15 min kein Stück weitergekommen waren, gaben wir auf und besuchten den gleich nebenan liegenden High Line Park. Ein kürzlich erweiterter Teil des Parks auf der ehemaligen Hochbahntrasse wurde von Adrián Villar Rojas künstlerisch gestaltet, indem er Alltagsgegenstände in überdimensionale Betonwürfel eingoss. In einem dieser Würfel fand ich auch Laufschuhe ...

 

Weiter ging es zu einer Infoveranstaltung unseres Reisebüros in den B.B.King Jazz-Club. Die Vorträge waren überraschend launig. Jörg Bunert, ein deutscher Spitzenläufer, der 28 Mal in New York gelaufen war, darunter etliche Male sub 2:30 empfahl, nicht auf Bestzeit zu laufen, sondern vor allem die Stimmung zu genießen.

 

2. New York ist gefährlich

Dann wurde eine Karte von New York gezeigt, in der die Stadtviertel in verschiedenen Rottönen eingefärbt waren. Dass sei der Anteil der Bevölkerung, die schon mal im Gefängnis war, wurde mit Augenzwinkern gesagt. Man sollte sich jedenfalls genug Kraft aufheben, um aus der blutrot eingefärbten Bronx wieder schnell rauslaufen zu können. Es mag schon sein, dass in den 80er Jahren der Marathontag der einzige Tag im Jahr war, an dem man die Bronx ungefährdet betreten konnte. Heute ist New York City eine der sichersten Städte der USA und ich habe mich immer sicher gefühlt.

 

Am Ende wurde noch erwähnt, nicht auf die Zeitumstellung zu vergessen. Deshalb betrug also die Zeitverschiebung zwischen Wien und New York nur fünf Stunden, weil in Europa schon seit einer Woche Winterzeit war. Hätte ich das nicht zufällig gehört, wäre ich am Marathonmorgen, allein in der Hotellobby auf den Bus wartend, wohl verfallen.

 

Danach versuchte ich es nochmal mit der Startnummernausgabe. Wie durch ein Wunder war am späten Nachmittag fast niemand mehr da und ich hatte meine Unterlagen in einer Minute. Anschließend vertrieb ich mir die Zeit auf der sehr umfangreichen Ausstellung. So wurde ich auch noch Kathrine Switzer ansichtig, der ersten Frau die damals verbotener Weise einen Marathon lief, die hier ihr Buch promotete.

 

3. Aus Amerika kommt nur Blödsinn wie z.B. Halloween

Am Abend war neben der offiziellen Marathon Opening Ceremony im Central Park auch eine Halloween Parade in Greenwich Village. Tagsüber waren uns schon einige eigenartig gekleidete Menschen aufgefallen, die gegen Abend immer mehr wurden. Wir entschieden uns, da dies doch außergewöhnlicher sein, die Halloween Parade zu suchen. Es herrschte richtige Volksfeststimmung. Die 6th Avenue war im Veranstaltungsbereich bereits gesperrt, Menschen nahmen an der Absperrung Aufstellung und immer mehr phantasievoll und aufwändig verkleidete Personen strömten daher. Alle waren heiter und absolut friedfertig, was sicher auch am Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen lag. Wenn ich da an so manchen Krampusrummel in Österreich denke – kein Vergleich!

 

Im Vorfeld hatten wir uns mit Wolfgang und Peter aus dem Forum verabredet. Wolfgang erzählte von einem Marathonempfang des Österreichischen Generalkonsuls für die Teilnehmer seines Reiseveranstalters. Kurzerhand hatten sich Peter und ich auch dort eingeladen. Leider mussten wir nun von der Halloweenparade weg, bevor sie richtig begonnen hatte. Im Generalkonsulat fühlten wir uns bei Krautfleckerl und Fleischbällchen richtig wohl.

 

Am Samstag war es nicht nur kalt, sondern auch regnerisch. Traditionell wird der Vormarathontag immer mit einer Shoppingtour verbunden, bei der ich die Sitzgelegenheiten in den großen Kaufhäusern (diesmal Bloomingdale’s) zur Schonung des Geläufs weidlicher ausnutzen kann. Am Abend war Pasta-Party. Ich hatte, von meinem Veranstalter einen Gutschein, die Begleitpersonen mussten gegebenenfalls einen um $ 40 zukaufen, was, bei aller Liebe, den Besuch einer Pizzeria nahelegen würde. Wolfgang hatte ein Alternativprogramm und lies uns seine Gutscheine zukommen. Leider klappte die Kontaktaufnahme mit Peter nicht. So gingen Conny und ich alleine zur Party.

 

4. Amerikaner ernähren sich ungesund

Die Pasta schmeckte vorzüglich. Überhaupt hatten wir in New York einen Trend zu biologischen Lebensmitteln entdeckt. Nachdem privater Autoverkehr nahezu unmöglich ist, sind darüber hinaus nach Büroschluss ganze Karawanen powerwalkend auf dem Heimweg und so wird der Lebensstil auch gesünder.

 

NYC Marathon

Im Festzelt war die Hölle los. Volunteers be­grüßten die eintreffenden Marathon-läufer mit Applaus, noch bevor diese einen einzigen Schritt gelaufen waren. Ein DJ legte auf. Die Stadt feierte ihren Marathon und freute sich über die Welt, die bei ihnen zu Gast war. Trotzdem blieben wir nicht lang, musste ich doch am nächsten Tag früh raus.

 

Um 5 Uhr 15 läutete der Wecker. Kurz kam Verwirrung auf, weil wir nun drei verschiedene Uhrzeiten hatten: Das Handy, das am Vorabend auf Winterzeit gestellt wurde und sich automatisch nochmals umstellte, die richtig eingestellte Laufuhr und die noch nicht verstellte Uhr am Infoscreen des Fernsehapparates. Da Conny sowieso nicht in den Startbereich mitdurfte, konnte sie noch weiterschlafen. Ich begab mich, gekleidet wie ein Clochard (dazu später) in die Hotellobby, die schon voll mit ungeduldigen Läufern war. Es kündigte sich ein wolkenloser jedoch sehr kalter und windiger Tag an.

 

Um 6 Uhr kam unser Bus und brachte uns zum Start auf Staten Island. New York ist da diesbezüglich ein bisschen unbequem. Die erste Welle startet um 9 Uhr 40, die vierte und letzte um 10 Uhr 55. Die Zufahrt zum Start wird aber schon um 7 Uhr gesperrt, so ergibt sich, je nach Startzeit, eine drei- bis vierstündige Wartezeit. Früh am Morgen im November kann es schon etwas frisch werden, man sollte sich daher was überlegen, um nicht zu erfrieren. Manchmal dachte ich mir, die 42 km zwischen Start und Ziel wären das geringste Problem, viel komplizierter würde es sein, heil bis zur Startlinie zu kommen und nachher wieder zurück ins Hotel zu finden.

 

Auf Staten Island wurden wir aus dem Bus gelassen und strömten den anderen hinterher zum Startgelände. Am Eingang gab es Sicherheitskontrollen mit Metalldetektoren wie am Flughafen. Da wir sowieso noch jede Menge Zeit hatten, war mir die kurze Verzögerung auch egal. Danach wurden wir, je nach Startnummer auf drei Start Villages aufgeteilt.

 

Ich hatte mir zuvor am Flohmarkt einen alten Trainingsanzug organisiert, der schön warm war. Zusätzlich hatte ich noch eine alte Haube auf und Fäustlinge an, die mir einmal meine Omi gestrickt hatte. Obwohl ich darunter noch Laufgewand in lang/lang, ein Unterleiberl, ohne dem ich außer im Hochsommer sowieso nicht laufen gehe und eine dünne Windjacke trug, wurde mir bald sehr kalt. Ich zog noch meine Jacke, aus dem Kleidersack für das Ziel an, nahm meine Laufhandschuhe und holte mir zusätzlich noch eine der ausgeteilten wunderbaren rosa-orangen Dunkin’ Donuts Hauben - aber mir war immer noch kalt. Leute die da nicht so gut ausgerüstet waren, zitterten schon am ganzen Körper und konnten teilweise nicht einmal mehr ihre Trinkbecher halten.

 

Als kleine Entschädigung für die frühe Anreise wurde wenigstens ein läufergerechtes Frühstück angeboten. Mit Albert, den ich im Bus kennen gelernt hatte, wanderte ich im Startgelände herum, um mich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Albert war ein Ersttäter. Er hatte zwar eine ordentliche sportliche Vorgeschichte mit Kurztriathlon, hatte aber vor dem Marathon nur einen einzigen einigermaßen langen Lauf absolviert. Ich befürchtete, dass der Marathon für ihn eine schmerzhafte Erfahrung werden würde, beschloss aber, nichts zu sagen und ihn diesbezüglich nicht zu verunsichern. (Wenn du das hier liest: Hallo Albert!)

 

Trotz der fast 51.000 Starter war das Gedränge im Startbereich erträglich, alles war perfekt organisiert. Ich rechnete nach: Jedes der drei Startdörfer hat sechs Startblöcke, die Corrals werden bei jeder der vier Wellen neu befüllt, das gibt insgesamt immerhin 72 Startblöcke. Albert durfte in der ersten Welle starten. Als sein Corral geöffnet wurde verabschiede ich mich und suche mir ein ruhiges Platzerl, um mich auf meine mitgebrachte Zeitung zu setzen und noch ein bisschen zu rasten.

 

5. Amerikaner sprechen keine Fremdsprachen

Ganz untypisch für die USA wurden Informationsdurchsagen in mehreren Sprachen gemacht. Irgendwann wurden die Öffnungszeiten der Corrals für die zweite Welle angekündigt. Wer nicht rechtzeitig vor Schließen der Tore da wäre, würde auf die nächste Welle verwiesen. Ich beeilte mich nun zu den Trucks für die Kleidersackabgabe und lief wieder zurück zu den Startblöcken. Es waren nur noch wenige Minuten Zeit und eine lange Schlange vor dem Eingang. Also drängte ich mich nach vorne, um dann irgendwann zu erfragen, dass hier alle noch auf den Einlass der zweiten Welle warteten.

 

6. Amerikaner sind prüde

Als der Block geöffnet wurde konnte ich mich nun recht weit vorne aufstellen. Für einen letzten Klogang hatte ich die Mobiltoiletten, die ich in den Startblöcken gesehen hatte, eingeplant. Die gab es zwar überall, nur nicht in meinem Startblock B. In den Unterlagen stand, dass urinieren außerhalb der Toiletten zur Disqualifikation führen kann. Nun hätte ich mich entweder in einen hinteren Startblock drängen können, um ein WC zu suchen, oder mich möglichst unauffällig bäuchlings an den, dem Läuferfeld abgewandten, Maschendrahtzaun lehnen. Männer haben es da einfacher. Um mich nicht nachträglich meines schönen Marathonergebnisses zu berauben, verrate ich jetzt nicht, welche Variante ich gewählt habe.

 

Fast pünktlich wurden wir aus den Corrals zur Startlinie an der Verrazano-Narrows Bridge geführt. Nun wurden die letzten Überkleider abgelegt und in die dafür vorgesehen Donationboxes geworfen, oder sie hüpften wie Flöhe über den Köpfen der Läufermassen dahin. Dann wurde die Amerikanische Hymne gesungen, Marines feuerten einen Kanonenschuss ab und zu den Klängen von Frank Sinatras New York, New York setzte sich das Läuferfeld in Bewegung. Wem bis dahin noch nicht kalt war, dem lief es nun beim Anblick der Skyline von Manhattan kalt über den Rücken. Ich hatte es geschafft, ich lief tatsächlich den New York City Marathon!

 

Verrazano-Narrows Bridge

Ich konnte gleich von Beginn an unbehindert laufen. Nur war durch das lange Verharren in der Kälte mein Laufstil etwas hölzern. Die Füße fühlten sich durch die wiederkehrende Durchblutung leicht bamstig an. Aber bald hatte sich ein angenehmer Laufrhythmus eingestellt. Der Wind blies auf der Brücke so arg, dass ich durch einzelne Böen ein Stück versetzt wurde. Wie wir später erfuhren, ließ man die Wheelchairs und Handcycler aus Sicherheitsgründen gar nicht über die Brücke, sie mussten ihren Bewerb in Brooklyn starten.

 

Die Verrazano Bridge war bis 1981 die längste Hängebrücke der Welt und ist heute noch die längste der USA. Die ersten zwei Meilen auf der Brücke brauchte ich nur, um zu realisieren, was da jetzt gerade mit mir passierte. Naturgemäß waren hier noch keine Zuschauer.

 

7. Amerikaner sind verrückt

Stimmt! Als wir nach Brooklyn kamen ging es so richtig los. Plötzlich standen überall Leute und schrien, als ob hier jemand Weltrekord gelaufen wäre. Und das nach zwei Meilen! Ich war völlig geflasht. Die Stimmung war ja noch besser als es überall erzählt wurde. Ich lief und genoss. Alle paar Meter spielte eine Band. Meine Dunkin’ Donuts- Haube hatte ich schon irgendwo abgeworfen. Nun drückte ich Großmutters Fäustlinge einem Zuschauer in die Hand. Das hätte sich meine Omi wohl auch nicht gedacht, dass einmal von ihr gestrickte Fäustlinge New Yorker Hände wärmen würden.

 

Bei der Infoveranstaltung hatte ich noch aufgeschnappt, dass 9 min pro Mile eine Endzeit von knapp unter 4 Stunden ergeben würden. Das sollte meine Richtzeit sein. Nun lief ich deutlich darunter und nahm es zufrieden zur Kenntnis. Jede Meile gab es eine Versorgungsstation mit Wasser und Gatorade. Ich trank immer ein bisschen was.

 

Nach acht fast geraden Meilen kamen wir in das Zentrum Brooklyns. Hier war die Strecke gut mit der U-Bahn erreichbar und hier hatte ich auch Conny das erste Mal hin dirigiert. Die Häuser wurden höher, in einer Kurve verengte sich die Strecke etwas und aus der tollen Stimmung wurde ein richtiger Hexenkessel. Trotz der vielen Menschen konnte ich Conny in der Masse ausfindig machen, die mitgebrachte Österreichfahne stach doch heraus. Ich war nun endgültig auf Betriebstemperatur und gab meine Windjacke ab. Jetzt konnte man auch meine Startnummer sehen, was wichtig war, wollte ich doch von den Fotografen erwischt werden. Nach einem Küsschen-Küsschen ging es weiter. Conny sagte mir später, dass ich mit transzendenten Blick nur gestammelt hätte: „Die spinnen alle!“

 

Mit ähnlicher Begeisterung ging es weiter. Selbst Polizisten am Straßenrand klatschten ab. Ich sah einen jungen Mann, der seinen Vater im Rollstuhl führte und ihm offensichtlich so seinen Traum, einmal beim New York Marathon dabei zu sein, erfüllte. Das Lesen der Anfeuerungsschilder am Straßenrand machte das Ganze noch kurzweiliger. Aus der Vielzahl möchte ich nur zwei herausheben, die jetzt vielleicht nicht besonders lustig klingen, mich aber dennoch zum Lachen brachten. Auf einem stand nur Bill Murray. Dazu musste man die Video aus der David Letterman Late Show kennen, wo er plötzlich das Interview abbrach, um für den NYC-Marathon 2014 zu trainieren. Auf einem anderen stand Chuck Norris never ran a marathon, was ich nur verstand, weil mich mein Sohn seit längerem mit Chuck-Norris-Witzen erfreute.

 

Nun ging es in den Brooklyner Stadtteil Williamsburg, der traditionell stark von Juden bewohnt wird. Den jüdischen Teil der Stadt interessiert der Marathon nicht, wurde uns auf der Infoveranstaltung gesagt und tatsächlich gingen die paar, vornehmlich mit schwarzen Mänteln gekleideten Menschen, völlig unbeeindruckt ihrer Wege. Der Jerusalem-Marathon muss diesbezüglich stimmungsmäßig ja der Hammer sein.

 

Bald kam die Queensboro Bridge ins Blickfeld als ich die Rampe sah, nahm ich mein erstes mitgenommenes Gel. Ich dachte mir noch, dass die Steigung ja gar nicht so langgezogen sei, wie immer gewarnt wurde, bis ich merkte, dass hier erst die Pulaski Bridge war, über die man nach Queens kam. Somit hatte ich das erste Gel schon vor der Halbmarathonmarke genommen, ein bisschen früh halt.

 

Die echte Queensboro Bridge kam zwei Meilen später. Hier ging es fast eine Meile lang stetig bergauf. Das war mir aber egal, nahm ich halt ein bisschen Tempo raus. Alle anderen um mich herum überholten mich nun. Oben wurden wir mit einem wunderschönen Ausblick auf Manhattan belohnt. Manche bogen zum Brückengeländer ab und fotografierten sich und andere vor der Skyline. Wenn ich schon mein Handy mithatte wollte ich hier auch ein Foto machen, im Laufen gelang das aber nur mäßig gut. Es sei hier nur abgebildet, weil es das einzige in einem Marathon von mir gemachte Foto ist.

 

Queensboro Bridge

Bergab drehte sich das Geschwindigkeitsverhältnis um. Ich lief mit gleicher Anstrengung weiter, was einer gefühlten Verdopplung meines Tempos entsprach, meine Mitläufer kamen mir nun fast wie stehende Hindernisse vor und ich musste aufpassen, vor lauter Haken schlagen nicht zu Sturz zu kommen. Am Ende der Brücke liefen wir durch eine 270° Kurve in die 1st Avenue. Hier standen die Leute wieder dichtgedrängt in mehreren Reihen hintereinander und brüllten sich die Seele aus dem Leib, was dem Ganzen den Eindruck eines Stadioneinlaufs gab.

 

8. Manhattan ist flach

Die größten Steigungen hatte ich zwar jetzt mit den Brücken hinter mir, aber eben ging es deshalb auch nicht weiter. Dachte ich mir vorher, die Wellen auf der 1st Avenue wären nur Kreuzungsplateaus, so merkte ich nun, dass Manhattan ein durchaus kupiertes Gelände hat. Insgesamt sollte ich auf meine Uhr 355 (barometrisch gemessene) Höhenmeter bekommen. Aber da ich mich wenig um die Zeit kümmerte, war es mir egal, wenn ich bergauf ein bisschen langsamer war.

 

Eine größere Gruppe Österreicher grüßte ich im Vorbeilaufen. Mit Conny hatte ich einen Treffpunkt ein bisschen später ausgemacht, suchte sie aber auf der falschen Straßenseite und merkte Sie erst, als sie mir hinterherrief. Bei Meile 18 war eine offizielle Gelstation. Die Gelbeutel lagen weit genug vor der Wasserstelle, so dass man bequem nach dem Gelschlucken auch noch Wasser nehmen konnte.

 

Am Ende der 1st Avenue liefen wir über die Willis Avenue Bridge in die Bronx. Die hier bis 2010 stehende alte Brücke hatte noch einen Gitterost, der am Marathontag zum Schutz der Läufer mit einem Flokati ausgelegt war. Leider war das jetzt nicht mehr so. Nun hatte ich alle fünf Boros New York Citys belaufen. Auch in der Bronx war die Stimmung prächtig. Nach ein bisschen Zickzack ging es über die Madison Avenue Bridge wieder nach Manhattan.

 

Jetzt merkte ich zwar, dass meine Meilenzeiten deutlich über 9 min lagen. Das Laufen machte aber immer noch Spaß und ich ließ mich, wie ich mir das vorgenommen hatte, nicht stressen. Da man hier leicht zwischen 1st und 5th Avenue pendeln und so die Läufer zweimal anfeuern konnte, war wieder die Hölle los. Ich genoss es, war aber nicht mehr so überrascht wie am Beginn des Rennens. Ca. bei Meile 22 nahm ich mein drittes Gel, das ich wieder selbst dabei hatte.

 

NYC Marathon

Der Central Park war überraschend früh da. Jetzt nur noch eine so kurze Runde, wie bei unserem Freitagsmorgenlauf. Schade eigentlich! Conny stand ca. auf Höhe der 90th Street. Jetzt wollte ich mir den Luxus gönnen, das letzte Stück mit Österreichfahne zu laufen und nahm Conny unser Erkennungszeichen ab. Sie schickte mich schon weiter, aber ich posierte noch für ein Foto, worauf sie fragte, ob ich es heute überhaupt nicht eilig hätte.

 

Die Strecke führte nun in den Park. Jedem der es sehen wollte, oder auch nicht, fuchtelte ich nun mit meiner Fahne vor der Nase herum. Einmal überholte mich ein Läufer und schrie: „Zah an, jetzt is nimma weit!“ Sollte mich die Fahne beim Laufen vielleicht etwas behindert haben, so wurde der Zeitverlust durch diese spezielle Motivation wieder wettgemacht. Auf der Südseite des Parks begann ich zu rechnen, durch die Meilenangaben hatte ich doch nicht so ein genaues Bild. Wenn ich jetzt ein paar flotte Schritte machen würde, bliebe ich nicht nur unter 4 Stunden, sondern auch unter 3:55. Damit war ich unter den gegebenen Rahmenbedingungen mehr als zufrieden. So locker war ich noch nie einen Marathon gelaufen.

 

Freudestrahlend lief ich ins Ziel und ließ mir die Medaille umhängen. Ich bekam eine Wärmefolie und einen Verpflegungssack. In den Marathonunterlagen stand, dass es nun 60 bis 90 min dauern würde, bis man aus dem Zielgelände raus kam. Da mir sehr bald wieder kalt wurde, musste dies schneller gehen. So aß ich was ich im Sack finden konnte während ich flott weiter ging. Nach 1 km war ich bei meinem Kleidertruck. Ich zog mich rasch um und nach einem weiteren halben Kilometer war ich beim Ausgang. Da im Vorfeld vor apokalyptischen Zuständen bei der Familienzusammenführung gewarnt wurde, hatten wir uns extra nicht an der direkt beim Ausgang liegenden A/C Line der Subway verabredet, sondern an der zwei Blocks entfernten 1/2/3 Line. Die Sorge war aber unbegründet, zumindest bei meiner Ankunftszeit war es einigermaßen übersichtlich. Sicherheitshalber hatte ich auch beim Laufen mein U-Bahn-Ticket mit, wie ich nachher erfuhr, waren jedoch die Drehkreuze in der Subway Station der A/C-Linie an der 86th Street an diesem Tag geöffnet.

 

Der Treffpunkt mit Conny klappte und mit der U-Bahn ging es wieder ins Hotel. In der Infobroschüre wurde von NY-Finishern Dinge genannt, die man unbedingt nach dem Lauf machen muss: Den Boden küssen. Den besten Apfel der Welt aus dem Verpflegungsbeutel essen. 10 min im kalten Wasser baden, um die Muskelfaserrisse nicht anschwellen zu lassen. Geküsst hatte ich Conny. Den wirklich hervorragenden Apfel aß ich später. Geduscht hatte ich heiß, obwohl ich gerne glaube, dass mir nach 10 min Kaltwasser nichts mehr wehgetan hätte.

 

Danach schauten wir uns eine Zusammenfassung des Rennens mit sehr spannenden Entscheidungen sowohl bei den Damen als auch den Herren im Fernsehen an. Als dann wieder die Livebilder zu sehen waren und immer noch Läufer bereits im Finsteren ins Ziel kamen, war ich doch etwas überrascht.

 

9. In Amerika gibt es nur schlechtes Bier

Es mag schon sein, dass Budweiser und Miller nicht die brautechnisch höchststehenden Biere herstellt. Mit Peter und Margarete hatten wir uns zu einer Afterraceparty in der Heartland Brewery verabredet. Die Medaille trugen wir, wie in New York üblich, stolz zur Schau. Es wurde ein lauschiger Abend und das Bier schmeckte vorzüglich. Die hier angebotenen sechs Sorten draft beer sollten aber nicht die größte Biervielfalt darstellen. Ganz in der Nähe unseres Hotels gab es noch zwei weitere bestens sortierte Beerbars. Die Beer Authority hatte sogar gezählte 77 Biere diverser craft beer breweries on tap. Auch wenn ich mich nur auf New Yorker Brauereien beschränkte, konnte ich nicht alle verkosten.


Am nächsten Morgen kaufte ich zuerst eine New York Times, wollte ich doch mein Marathonergebnis schwarz auf weiß in der Zeitung sehen. Danach schauten wir nochmal ins Zielgelände, um ein Finisher-Souvenir zu erstehen. Doch hatte sich bereits eine so lange Schlange gebildet, sodass wir beschlossen, das Marathonerlebnis zu beenden und die nächsten vier Tage für Besichtigungen zu verwenden.

 

10. New York ist eine Betonwüste

Für uns gab es auch in den Straßenschluchten noch viel zu entdecken. Zum Beispiel das Rockefeller Center. Der Ausblick von dort ist fast noch spektakulärer als vom Empire State Building, weil man hier den Central Park und eben auch das Empire State Building sehen kann. Aber schon bei einem Besuch der Lady Liberty konnten wir dem Häusermeer entfliehen. Noch erstaunlicher ist es aber, dass man auch direkt mit der Subway an die Atlantik Küste fahren und dort stundenlang am kilometerlangen und um diese Jahreszeit fast menschenleeren Sandstrand spazieren gehen kann. Auch mitten in Brooklyn gibt es mit dem Prospect Park eine Grünfläche, die noch wildromantischer ist als der Central Park.

 

Der New York Marathon ist nicht nur der größte Marathon der Welt, er ist auch von der Stimmung etwas ganz Besonders. Dabei zu sein war für mein Marathonjubiläum ein würdiges Fest. Es ist ja nicht so, dass mir Laufen keinen Spaß mehr macht, aber einen Marathon ordentlich zu rennen verlangt halt schon eine zeitaufwändige Vorbereitung. Und ich weiß nicht, ob ich dazu noch Lust habe. Alle mit denen ich gesprochen habe glauben mir nicht, dass ich nun keinen Marathon mehr laufen will. Wir werden sehen. Wetten werden angenommen.

 

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